"Mehr als ein Machtkampf innerhalb des Establishments"

Der Schriftsteller und Orientalist Navid Kermani, Senior Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen, beschreibt hier, in der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung DIE ZEIT, die gegenwärtigen Unruhen im Iran als Ausdruck eines langfristigen, unumkehrbaren gesellschaftlichen Wandels der iranischen Gesellschaft, als „Lernprozess“, der vom Westen nach wie vor nicht begriffen werde.

Die Diskussionen, die bereits Anfang der 1990er Jahre in religiös-philosophischen Fachzeitschriften und den Theologischen Seminaren begannen und bis zu deren Verbot auch die auflagenstärksten Tageszeitungen erreichten, zielen auf einen Wandel, der Politik und Religion wieder auseinander dividieren und die Autorität des Staatsoberhaupts allein durch das Volk, nicht durch Gott legitimieren will. Diese Reform des Islams ist eine gedankliche und historische Entwicklung, die rasanter und tiefgreifender nicht hätte sein können. Sie ist ein genuines Produkt der eigenen Kultur, der kollektiven Erfahrung der eigenen Gesellschaft. Dies verschafft ihr Dauer, Substanz und eine intellektuelle Schärfe, wie sie in den wenigsten Ländern der islamischen Welt gegenwärtig denkbar ist…
Die Veränderung einer Gesellschaft geschieht langsamer als die Abwahl einer Regierung oder die Revolution eines politischen Systems; dafür ist sie unumkehrbar.

So sei es auch kein Zufall, dass die derzeitigen Proteste durch den Tod des Großajatollahs Montazeri ausgelöst wurden:

Grund war nicht nur, was er gesagt hatte – dass er gegen die Tyrannei wetterte und dem Revolutionsführer persönlich die Legitimation absprach, dass er den Bau der Atombombe verdammte, ungeachtet ihres Glaubens allen Bürgern Irans und ausdrücklich auch der religiösen Minderheit der Bahais die gleichen Rechte zusprach. Es ging auch darum, wer all das sagte: nicht ein junger Aufrührer, nicht ein säkularer Intellektueller, sondern der höchste schiitische Theologe seiner Zeit und engste Vertraute Chomeinis, der bis 1989 als dessen Nachfolger ausersehen war…
So richtet sich die Revolution selbst.

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