Berlin, 28. Januar 2021 – Zwei iranische Gerichte verkündeten in den vergangenen Monaten Urteile, die das Eigentum von 27 Bahá’í-Familien im Dorf Ivel für unrechtmäßig erklären.
In den jüngsten Urteilen wurde entschieden, dass alle Grundstücke der Bahá’í im Dorf Ivel – von denen sich einige seit Mitte des 19. Jahrhunderts in ihrem Eigentum befinden – enteignet werden, mit der Begründung, dass die Bahá’í „eine irregeleitete Ideologie“ haben und daher keine „Legitimität in ihrem Eigentum“ an irgendeinem Grundstück haben.
Überblick
Ende 2020 verkündeten zwei iranische Gerichte Urteile, die das Eigentum an Grundstücken von 27 Bahá’í-Familien im Dorf Ivel für unrechtmäßig erklärten. Aus den Urteilen geht hervor, dass die Enteignung ihrer Grundstücke auf ihre Religionszugehörigkeit zurückzuführen ist. Diese Urteile folgten auf eine jahrzehntelange Verfolgung der Bahá’í in Ivel, hart arbeitenden und einkommensschwachen Landarbeitern, die außer ihren Häusern und ihrem landwirtschaftlichen Land keine weiteren Vermögenswerte und Möglichkeiten haben, ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Die Grundstücksenteignungen finden im Kontext der zuletzt eskalierenden Hausdurchsuchungen in Wohnungen und Betrieben der Bahá’í im Iran statt. Am 22. November 2020 durchsuchten mehr als hundert Regierungsbeamte die Geschäfte und Häuser von Dutzenden Bahá’í in sieben Städten und forderten sie auf, ihre Eigentumsurkunden auszuhändigen.
Hintergrund
In seinen frühesten Tagen war Ivel die Sommerresidenz für Schafzüchter aus der umliegenden Region Mazandaran. Seit mehr als anderthalb Jahrhunderten gibt es in dem abgelegenen Dorf Bahá’í. Tatsächlich haben Bahá’í unmittelbar nach ihrer Religionsstiftung Mitte des 19. Jahrhunderts im Iran etwa die Hälfte der Gesamtbevölkerung von Ivel ausgemacht.
Von Anfang an förderte die Bahá’í-Gemeinde soziale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungen in Ivel. Zusätzlich zu der Rolle, die sie in der Landwirtschaft der Gegend spielten, gründeten sie eine Schule, in der die Kinder der Gegend, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, unterrichtet wurden. Die Bahá’í errichteten auch ein Badehaus zur Nutzung durch die Dorfbewohner, wobei sie das örtliche Wasserreservoir sanierten und Modernisierungen vornahmen, um den Hygienestandard der Einrichtung zu verbessern.
Eine Geschichte der Verfolgung durch Vertreibung und Umsiedlung
Trotz der konstruktiven Rolle, die die Bahá’í in ihrer Dorfgemeinschaft gespielt haben, erlebten sie eine Reihe von Verfolgungen, die größtenteils durch Massenvertreibung und Umsiedlung sowie durch Abriss, Planierung und Beschlagnahmung ihrer Grundstücke gekennzeichnet waren. Im Jahr 1941 zum Beispiel wurden Menschenleben bedroht, als Banden lokale Bürger aufstachelten, die Bahá’í anzugreifen. Bahá’í wurden verhaftet, massiv verprügelt und erpresst; ihre Häuser und ihr Besitz wurden geplündert. Schließlich wurden sie in ein sieben Kilometer entferntes Dorf verbannt. Als sich die Situation einige Monate später entspannte, kehrten die Bahá’í in ihre angestammten Häuser und Höfe zurück.
Ein weiterer Vorfall ereignete sich im Juni 1983. Die Bahá’í wurden aus ihren Häusern vertrieben und mit einem Bus in die nächstgelegene Großstadt, Sari, gebracht. Als sie dort ankamen, wurden sie von den Behörden zurückgeschickt. Als sie nach Ivel zurückkehrten, wurden mehr als 130 von ihnen eingesperrt und drei Tage lang ohne Essen und Wasser in einer Moschee gefangen gehalten. Seitdem sind die meisten Bahá’í-Häuser unbewohnt, da ihre Bewohner vor Gewalttaten oder infolge der behördlichen Vertreibung geflohen sind. Viele der Bahá’í aus Ivel haben sich in der Nähe niedergelassen und kehren nur im Sommer in das Dorf zurück, um zu säen, zu ernten und sich um ihre Grundstücke zu kümmern. Dies erforderte eine schriftliche Erlaubnis der Polizei und des Gerichts. Die Bahá’í wurden während ihrer kurzen Aufenthalte regelmäßig schikaniert.
Im Jahr 2007 wurden sechs ihrer Häuser in Brand gesteckt. Im Jahr 2010 wurden die Häuser von etwa 50 Bahá’í-Familien abgerissen und niedergebrannt. Berichten zufolge wurden 90 Prozent der Häuser, die sich im Eigentum der Bahá’í befanden, abgerissen. Die Absicht dieser Maßnahme war es, dass die Bahá’í nie wieder nach Ivel zurückkehren sollten.
Die Bahá’í legen seit mehr als drei Jahrzehnten vergeblich Rechtsmittel ein. Stets leugneten die lokalen Regierungsvertreter, Kenntnis von den Abrissen oder den zugrundeliegenden Motiven zu haben. In wenigen Fällen fielen die Urteile zu Gunsten der Bahá’í aus. Die Behörden behaupteten jedoch, dass sie angesichts des Widerstands, dem sich die Bahá’í seitens der Anwohner ausgesetzt sahen, wenig tun konnten, um die Entscheidungen umzusetzen.
Gerichtsurteile
Durch einen Beschluss vom 4. November 2019 entschied das Sondergericht für Artikel 49 der Verfassung, Zweigstelle Mazandaran, dass der Besitz des Landes, das den Bahá’í von Ivel gehört, unrechtmäßig sei. Die Begründung stützt sich auf den Verschwörungsmythos, dass sich die „irregeleitete Sekte“ der Bahá’í, einst unterstützt durch den vermeintlich ihrer Religionsgemeinschaft zugehörigen ehemaligen Premierminister Hoveyda „in der Absicht, ihren irregeleiteten Glauben und ihre Ideologie zu verbreiten, in der Region niedergelassen hat, während sie fruchtbares Land in der Region besetzte, die Ländereien auf ihren Namen registrierte (…)“. Die feindliche Gesinnung des Gerichts, die sogar in Antizionismus überschlägt, wird fortgeführt, indem die Rückkehr der Bahá‘í in das Gebiet nach ihrer postrevolutionären Vertreibung in Verbindung gebracht wird, „mit der Absicht, ihre irregeleitete Ideologie im Dorf und in der Gegend zu verbreiten, durch ihren Einfluss am Hof [des Schahs] und mit der Unterstützung des besetzenden zionistischen Regimes, um Ländereien zu besetzen, die historisch den Muslimen gehörten, und die finanziellen Einnahmen aus den Ländereien zur Verbreitung der irregeleiteteten Ideologie zu verwenden.“ Daraus folgt dann die gerichtliche Bewertung: „Es gibt keine Rechtmäßigkeit in ihrem Besitz, und es obliegt den überzeugten Gläubigen, der Täuschung und Korruption dieser perversen Sekte entgegenzutreten und die Ablenkung und Anziehung anderer zu ihnen zu verhindern, und jeder Kontakt mit ihnen wurde als ḥarám erklärt.“ Am 1. August 2020 bestätigte die Zweigstelle 54 des zweitinstanzlichen Sondergerichts für Artikel 49 der Verfassung in Teheran diese Entscheidung, in dem es die Berufung der Bahá’í abwies.
Die Zweigstelle 8 des Berufungsgerichts von Mazandaran hielt am 13. Oktober 2020 trotz wiederholter Besuche bei den zuständigen Behörden und ohne dass die Anwälte Gelegenheit hatten, die Akten einzusehen, um eine Verteidigungsschrift vorzubereiten und Dokumente und Auskünfte einzureichen, eine außerordentliche Sitzung ab und entschied gegen die Legitimität des Eigentums an 27 Häusern und Grundstücken der Bahá’í in Ivel. Der Beschluss billigte auch die Entscheidung zugunsten der Sitád-i-Ijrá’íy-i-Farmán-i-Imám (Die Ausführung des Befehls des Imam Khomeini, bekannt als EIKO) in Sari, das den Bahá’í gehörende Ackerland und das Grundeigentum der Bahá’í zu verkaufen. Im Anschluss an diese Anordnung schloss das Gericht den von den Bahá’í angestrengten Fall bzgl. der Zerstörung von Gebäuden im Eigentum der Bahá’í in Ivel auf der Grundlage der Entscheidung des Sondergerichts für Artikel 49 und der Billigung des genannten Urteils ab.
Die beiden Richter, die diese Urteile verkündeten, sind: im August Herr Hassan Babai, und im Oktober Herr Mohammad Sadegh Savadkouhi.
Enteignung von Grundeigentum als Merkmal der religiösen Verfolgung
Diese Entwicklungen sind die jüngsten in einer Reihe von Enteignungen von Grundeigentum seit der Islamischen Revolution im Iran 1979. Seit dieser Zeit wurden Hunderte von Privat- und Geschäftsgrundstücken von Bahá’í willkürlich enteignet, darunter auch Häuser und Bauernhöfe.
Mehr als einhundert Regierungsbeamte durchsuchten am 22. November 2020 die Geschäfte und Häuser von Dutzenden von Bahá’í vielerorts im Iran und forderten sie auf, ihre Eigentumsurkunden auszuhändigen. Die zeitgleichen Razzien fanden in mindestens sieben Städten im ganzen Land statt und folgten nur wenige Stunden auf einen 15-tägigen landesweiten Lockdown, der verhängt wurde, um Coronavirus-Infektionen im Land einzudämmen.
Zu den mitgenommenen Gegenständen gehörten unter anderem Smartphones, Computer, Tablets und Bücher, einschließlich Bahá’í-Texten. Mehrere der durchsuchten Häuser gehörten Bahá’í, die von den Behörden bereits zuvor ins Visier genommen worden waren. Die Bahá’í wurden außerdem zum iranischen Bundeskriminalamt vorgeladen.
Die Razzien fanden in der Hauptstadt Teheran sowie in Karaj, Isfahan, Mashhad, Kerman, Shahin-Shahr und Baharestan statt. Zeugen berichteten, dass die Beamten bei ihrem Aufenthalt in den Häusern der Bahá’í alle behördlichen Gesundheitsbestimmungen ignorierten.
Menschenrechtsverletzung und Reaktion des Beauftragten der Bundesregierung für weltweite Religionsfreiheit
Mit diesen aus religiösen Vorurteilen begründeten Enteignungen verstoßen die Behörden gegen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen. Gemäß Artikel 17 hat jeder das Recht, sowohl allein als auch in Gemeinschaft mit Anderen Eigentum innezuhaben. Ferner darf demnach niemand willkürlich seines Eigentums beraubt werden. Eine willkürliche Enteignung liegt insbesondere dann vor, wenn sie in diskriminierender Weise, also etwa aufgrund der Religionszugehörigkeit der Eigentümer erfolgt.
Auf den diskriminierenden Charakter dieser Enteignung sowie der Behandlung der Bahá’í insgesamt, ging der Religionsfreiheitsbeauftragte der Bundesregierung, Herr Markus Grübel in einer Presseerklärung (englische Übersetzung) anlässlich des Weltreligionstages am 17. Januar 2021 ein:
„Gerade auch durch die Corona-Pandemie hat sich die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Diskriminierung der Bahá’i verschärft. Die Gemeinschaft berichtet von zunehmenden Verhaftungen, Vertreibungen und Enteignungen von Grundbesitz. Im August 2020 hat ein Gericht ein Urteil bestätigt, das Landbesitz der Bahá’i im nordiranischen Dorf Ivel als „illegal“ bezeichnet.“
Bei einem Webinar der European Platform on Religious Intolerance and Discrimination (EPRID) am 27. Januar 2021 bekräftigte Herr Grübel den fortwährenden Einsatz der Bundesregierung für die im Iran systematisch verfolgten Bahá‘í:
„Wir sollten auf jeden Fall das Thema der Menschenrechtsverletzungen im Iran immer wieder ansprechen und auf die Rechte der Minderheiten, wie beispielsweise der Bahá’í, die ganz besonders im Iran leiden, aber auch der Christen, hinweisen.
Zu dieser Thematik wird am 4. Februar ab 15:00 Uhr ein Webinar stattfinden, bei dem der ehemalige UN-Sonderberichterstatter über angemessenes Wohnen, Herr Million Kothari, die Mitglieder des Europäischen Parlaments, Herr Evin Incir und Herr Antonio Lopez-Isturiz White, ein Mitglied des Schwedischen Parlaments, Herr Andreas Österberg sowie die Sprecherinnen der Baha’i International Community Büros in Genf, Frau Diane Alai und in Brüssel, Frau Rachel Bayani, auf die besondere Relevanz dieser grausamen Menschenrechtsverletzung eingehen werden. Hier geht es zur Anmeldung.
Archiv der Bahá’í-Verfolgung im Iran (Stichwort: Ivel)