Die Islamische Republik hat uns Bahá’í als lebensunwert erklärt
Als die Revolution stattfand, war ich 26 Jahre alt und leitete eine Schule im Süden der Hauptstadt. Eines Tages erhielt ich einen Bescheid. Ich wurde als „unwert“ für das Arbeiten erklärt. Zur gleichen Zeit wurde ich auch für die Fortsetzung meines universitären Studiums als „unwert“ erklärt. Mein Ehemann kam damals alle 15 Tage einmal nach Hause. Seit einigen Jahren bereits arbeitete er bei Kälte und Hitze in einem Aluminiumcontainer am Rande des Flusses Karadj in Shahriar. Er war damit beschäftigt, eine Sand- und Kiesfabrik zu bauen, aber eine Woche vor der Eröffnung wurde die Fabrik beschlagnahmt. Auch er wurde für „unwert“ erklärt! Mein Vater, mein Bruder, alle Verwandten, Freunde und meine Mitgläubigen wurden nach und nach arbeitslos; unser aller Leben wurde einem tobenden Sturm ausgesetzt. Hunderte von Menschen wurden im ganzen Land verhaftet und in die Gefängnisse gesteckt, und jeden Tag hörten wir im Radio von Hinrichtungen unserer Mitgläubigen und Freunde. Das gesamte Vermögen unserer Gemeinde und das Eigentum vieler meiner Mitgläubigen wurden beschlagnahmt. Nahezu 250 Menschen wurden nur wegen ihrer Zugehörigkeit zur Bahá’í-Religion hingerichtet.
Die gewählten Bahá’í-Institutionen, die für die Verwaltung der Angelegenheiten unserer Gemeinde verantwortlich waren, wurden ebenfalls aufgelöst und wir alle wurden für „unwert“ erklärt. Uns wurde augenblicklich unsere Heimat, d.h. die Heimat unserer Vorfahren, weggenommen, und wir wurden als „Fremde“ deklariert. Und in dieser giftigen Atmosphäre mit schweren Vorwürfen und schrecklichen Angriffen wurden wir für die Wahrnehmung unserer Bürgerrechte für „unwert“ erklärt: um Arbeit und Beschäftigung zu haben, um höhere Bildung zu erlangen, um unseren Mitmenschen aufrichtig zu dienen, um unsere Überzeugungen zu verteidigen, die von der Allgemeinheit aus allen Richtungen angegriffen, verleumdet und dem Hass ausgesetzt wurden, selbst für gewöhnliche menschliche Beziehungen zu unseren Landsleuten.
Als ich 2007 verhaftet wurde und zweieinhalb Jahre in engen, düsteren Isolationszellen unter Druck und Verhören bar jeglicher Sicherheit verbringen musste, als wir sieben Mitglieder der Gruppe „Yaran-e Iran“ (Freunde Irans) unter Androhung von Todesstrafe angeklagt und vor das Gericht gestellt wurden und allein für unsere ehrenwertesten humanitären Aktivitäten zu einer zwanzigjährigen Haftstrafe verurteilt wurden, dachte ich mir, dass ich eines Tages alles aufschreiben werde und die Haltlosigkeit der Spionagevorwürfe offenlegen werde. Ich werde den Menschen erzählen, dass wir niemals Verrat an unserem Land verübt haben. Wir lieben den Iran und wünschen die Würde und das Ansehen für unser Heimatland. Schließlich wurde unsere zwanzigjährige Haftstrafe durch die Anwendung eines Gesetzes umgewandelt. Nach zehn Jahren wurden wir alle sieben nach und nach freigelassen. Aber auch jenseits der Mauern war ich „unwert“. Am Tag meiner Freilassung kam niemand, um mich in Empfang zu nehmen. Meine Familie hatte erwartet, dass ich erst am nächsten Tag freigelassen werden würde. Sie durfte nicht einmal telefonieren. Also verließ ich das Gefängnis von Evin, ohne dass meine Familie darüber benachrichtigt worden wäre, ohne Geld und sogar ohne meine Hausanschrift. Ein seltsames Unbehagen schnürte mein Herz: Weshalb hatte die Gefängnisleitung so gehandelt? Sie raubten mir selbst meine Freude! Ein liebenswürdiger Mensch streckte mir sein Handy entgegen, damit ich meine Familie benachrichtige. Aber widerwillig zog ich meine Hand zurück. Ich hatte Angst vor Mobiltelefonen, die im Gefängnis verbotenen waren. Ich wusste nicht einmal, wie man es einschaltet! Eineinhalb Stunden lang stand ich oben auf der Treppe, bis mein Ehemann endlich kam, und wir gemeinsam nach Hause gingen.
Es waren Jahre vergangen, um meine Gewohnheiten zu ändern und mich an das Leben in der geschlossenen und gnadenlosen Welt des Gefängnisses von Überwachungskameras beobachtet anzupassen, und jetzt musste ich meine körperlichen und mentalen Gewohnheiten erneut ändern, was keineswegs so einfach war. Beim Überqueren der Straße wurde ich von Angst und Sorge überwältigt. In großen Geschäften überkam mich die Angst. Die Geschwindigkeit und Belebtheit der Straßen verursachten mir Kopfschmerzen und Übelkeit. Das Tempo der Veränderungen war schwindelerregend. Manchmal schloss ich meine Augen, um die Hektik nicht zu sehen. Ich litt unter einer „Angst vor offenen Räumen“. Alles hatte sich verändert. Die Welt, die ich kannte, und das Bild, das ich jahrelang von einem Leben außerhalb des Gefängnisses mit mir getragen hatte, war von der Stelle verrückt. Die Kinder waren erwachsen geworden, und das Alter lastete auf den Köpfen und Gesichtern der Jugendlichen. Viele hatten den Iran verlassen. Manchmal fragte ich nach jemandem, der bereits gestorben war. Manchmal sah ich Freunde, an deren Namen ich mich nicht erinnerte, und oft verwechselte ich Menschen miteinander. Die (IT-)Technologie war überwältigend. Als ich zum ersten Mal auf dem Bildschirm des Mobiltelefons meine Tochter erblickte, die aus Australien anrief, war ich erstaunt und vergoss unentwegt Tränen. Internet-Taxis, Visa-Leitfäden, die Computer- und Internetleistung erstaunten mich, und meine Unfähigkeit in diesen Bereichen quälte mich sehr. Ich erkannte das gängige Geld nicht und konnte die Inflation und den Preisanstieg nicht fassen. Ich zog es vor, mich wie in der Gefängniszeit auf kurze und kleinere Einkäufe zu beschränken.
Meine Reaktionsfähigkeit hatte stark abgenommen, und ich wunderte mich über die belebten Versammlungen und die Art der Gespräche und wurde sehr schnell müde. Im Folgejahr ließen die Aufregung der Freiheit und die ersten Besuche schließlich nach, und auf Empfehlung von Freunden sowie auf Drängen meiner Familie unternahm ich einige Inlands- und Auslandsreisen. Aber überall, wo ich auch war, fühlte ich mich als eine Fremde, die zur Hälfte neben meinen Mitgefangenen im Gefängnis verblieben war, und das Leid der Frauen in den Gefängnissen von Mashhad, Gohardasht, Qarchak und Evin, mit denen ich gelebt hatte, ließen mich nicht los. Ich war zu einem zweigeteilten Menschen geworden. Zwei Jahre und acht Monate des gesellschaftlichen Umgangs mit dem Corona-Virus und der Selbstisolierung verstärkten meine unfreiwillige Isolation noch. Die einzige Beschäftigung, die mir in diesen Jahren verblieb, war das Niederschreiben und Bearbeiten von Gefängniserinnerungen und der Entwurf eines Teils meiner im Gefängnis verfassten Gedichte für die Veröffentlichung, von denen ich wahrscheinlich einen bedeutenden Teil bei einem Übergriff auf mein Haus verloren habe. Obwohl ich den Wunsch hatte, meine einzige Enkelin zu sehen und versuchte, ein Visum zu bekommen, ließ mein Schicksal dies nicht zu.
Zu meinem Schicksal waren Männer geworden, die darauf warteten, dass ich nach zweieinhalb Jahren das Haus verlasse, um kurz nach Ramsar zu reisen, damit sie bei unserer Abwesenheit in unser Haus eindringen und unser Leben auf den Kopf stellen. Ich werde nie erfahren, was sie dort getan und was sie entwendet haben. Eine andere Gruppe überfiel nachts in Ramsar das Haus meiner Schwester, um mich während meiner Corona-Erkrankung festzunehmen und mich ohne Aufklärung über die Anklage in die Zellen von 209 zu überführen. Ich konnte es mir nicht erschließen, weshalb ich festgenommen wurde, bis ich in meinem Haftbefehl des Revolutionsgerichts Ramsar las: „Mitgliedschaft in der fehlgeleiteten Sekte der Bahá’í“. 42 Tage lang war ich der Einzelhaft und der härtesten Verhöre ausgesetzt, die von Gewalt, Beleidigungen, Drohungen und Verleumdungen begleitet wurden. Die Auswirkungen meiner Corona-Erkrankung waren schwerwiegend, und mindestens dreimal wurde ich wegen intensiven Hustens, Atembeschwerden und Knie-Schmerzen und -Schwellungen in der Gesundheitsabteilung von 209 untersucht. Vom gleichen Zellblock 209 aus wurde ich vor die Revolutionsstaatsanwaltschaft von Evin gebracht, um die neue Anklage zu sehen, die lautete: „Verwaltung einer fehlgeleiteten Sekte mit dem Ziel, die Sicherheit des Landes zu gefährden“. Ich schrieb einen Brief an die Staatsanwaltschaft von Teheran und beschwerte mich, dass man versuche, eine Akte gegen mich anzufertigen und dass ich diese Anschuldigung nicht akzeptiere und es unwahrscheinlich sei, dass auch nur ein Dokument oder ein Beweis gefunden würde, um diese Anschuldigung zu rechtfertigen. Ich bat den Staatsanwalt, diese Akte persönlich einzusehen.
Ich sagte es dem Staatsanwalt und schrieb ihm, dass diese Anklage haltlos sei und dass ich sie dann akzeptieren würde, wenn sie drei Personen in diesem Land finden könnten, die ich auf irgendeine Weise und aus irgendeinem Grund geleitet hätte. Der Untersuchungsrichter verwies mich ohne auch nur eines Blickes oder eines Wortes zu würdigen, nach draußen. Bis zum Tag der Gerichtsverhandlung, auch danach hatte ich kein Recht der Einsichtnahme in meine Akte. Vor der Gerichtsverhandlung durfte ich meinen Anwalt nicht treffen und wusste nicht, ob er meine Akte überhaupt gelesen hatte oder nicht. Aber wie sollte eine Verteidigung stattfinden, ohne die Kontaktierung der und einen Besuch bei der Angeklagten? Der Richter traf seine Entscheidung in einer kurzen Gerichtsverhandlung, indem er uns ansah, und uns für „unwert“ erklärte. Fünf Monate später, an einem kalten Wintertag, an dem ich dieselbe leichte Kleidung wie bei meiner Verhaftung im Sommer trug, wurde ich in den Frauentrakt des Evin-Gefängnisses verlegt. Mein Körper war erschöpft, meine Knie schmerzten und waren angeschwollen, weil ich im Verhörraum gegen die Wand geschleudert worden war. Ich kehrte zurück in den Frauentrakt von Evin, wo ich vor weniger als fünf Jahren, nach zehnjähriger Haft, den Boden vor den politischen und ideologischen Gefangenen geküsst und diesen Ort verlassen hatte.
Meine Freundin und einzige Begleiterin, Fariba Kamalabadi, die ebenfalls ihr ganzes Leben lang für „unwert“ erklärt worden war, kam mir entgegen und berichtete, dass wir beide zu weiteren zehn Jahren Haft verurteilt worden wären. Zur selben Zeit, als ich dieses Urteil erhielt, musste mein Mann nach Jahren des Kampfes und Durchhaltens den Hausschlüssel des Hauses aushändigen, welches der Ertrag seiner lebenslangen Arbeit und Anstrengung gewesen war. Unser Haus wurde beschlagnahmt! Er musste das Haus, das er liebte und in dessen Garten er jeden einzelnen Strauch kannte, für immer verlassen. Ich realisierte erst in diesem Augenblick, dass wir Bahá’í seit 45 Jahren bereits ununterbrochen für „unwert“ erklärt werden, ein normales Leben in unserem Land zu führen, welches unsere Heimat und die unserer Vorfahren ist. Ich erinnere mich daran, dass ich vor Jahren einmal dem Vernehmungsbeamten sagte: „Eines Tages werden wir dieses Gefängnis verlassen ”. Er antwortete seelenruhig: „Ja, aber ob lebend oder tot, das bestimmen wir!“ Jetzt sehe ich meine Zukunft nicht mehr vor mir liegen und habe die Hoffnung aufgegeben, dass die Regierung mich gerecht behandelt.
Auch wir haben wie alle anderen Bürger dieses Landes das Recht auf ein würdiges Leben, Bürgerrechte, das Recht auf angemessene Arbeit entsprechend unseren Fähigkeiten und Fertigkeiten; auch wir haben das Recht auf Höhere Bildung und auf eine respektvolle Beziehung zu unseren Mitbürgern. Jeder hat das Recht auf eigene Überzeugung, um auf deren Grundlage zu leben. Alle haben das Recht auf Wohlstand und Sicherheit, frei von jeglicher Belästigung oder Übergriff durch Einzelpersonen oder Gruppen, und alle sollten ihre Kräfte und Fähigkeiten dafür einsetzen, das Land aufzubauen, statt sich verteidigen zu müssen.
Mitbürger! OurStoryIsOne. Bitte schließt uns nicht aus und hört unsere Berichte in unseren eigenen Worten!
– Mahvash Sabet, Evin-Gefängnis, November 2023