Aufmerksamen Beobachtern kann nicht entgehen, dass sich in der arabischen Welt eine neue Qualität des intellektuellen Diskurses entwickelt, und zwar über eine lang tabuisierte Frage: Wie können die Anhänger aller Religionen friedlich miteinander auskommen? Mit dazu beigetragen hat der dramatische Aufruf eines iranischen Ayatollahs. Er forderte die schiitische Mehrheitsgesellschaft im Iran auf, mit der größten religiösen Minderheit des Landes, den Bahá’í, friedlich zusammenzuleben. Daraus hat sich in der gesamten Region eine offene Debatte über die Situation der Religionsfreiheit in den arabischen Ländern entwickelt.
Manama, Bahrain, (BWNS) — “Der Mensch wurde ‘frei’ erschaffen. Aus islamischer Perspektive ist ‘Freiheit’ nicht nur ein Recht, sondern eine Pflicht, für die das Gesetz verantwortlich ist“, stellte Abdu’l-Hamid Al-Ansari, Fachmann für islamisches Recht in Qatar, am 26. Mai in der kuwaitischen Zeitung Aljarida fest.
“Der Islam garantiert denen, die in Glaube und Ausübung von ihm abweichen ‘religiöse Freiheit’, wie es im Koran steht: ‘Einem jeden von euch haben Wir eine klare Satzung und einen deutlichen Weg vorgeschrieben.“
Der ehemaliger Dekan für islamische Studien und Gesetz an der Universität Qatar fragte folgerichtig:
„Welche Bedeutung verbleibt der ‚Freiheit‘, wenn wir die Anhänger anderer Religionen daran hindern, ihren Glauben auszuleben?“
Professor Suheil Bushrui, eine Autorität auf dem Gebiet religiöser und interreligiöser Themen in der arabischen Welt, ordnet diese und andere Äußerungen islamischer Denker ein. In der Region gebe es zweifellos gewaltige Kräfte an Fanatismus, aber auch eine Öffnung des Denkens. „Der Wunsch, eine neue Art des Denkens zu schaffen, ist genauso gewaltig“, so der Rektor desGeorge and Lisa Zakhem Kahlil Gibran Research and Studies Project an der Universität Maryland gegenüber dem Bahá’í World News Service. Teil dieses neuen Denkens sei, dass Gewalt nichts ist, was Religion lehrt. Außerdem nehme in der Diskussion die Betonung auf die Freiheit des Glaubens und der Ausübung zu, wie sie im Koran selbst garantiert werden, meint Bushrui.
Artikel, Kommentare, Meinungen
Diese Debatte spiegelt sich in einer wachsenden Anzahl von Presseartikeln und Beiträgen wider, die in den letzten Wochen in der arabischen Welt zum Thema veröffentlicht wurden. Einige arabische Kommentatoren schrieben, dass sie durch die Handlungen von Ayatollah Abdol-Hamid Masoumi-Tehrani dazu ermutigt wurden. Dieser schiitische Geistliche hatte vor kurzem eine Kalligrafie heiliger Verse der Bahá’í angefertigt und den Bahá’í der Welt als Zeichen der Versöhnung geschenkt. Gleichzeitig hatte er sich für friedliche Koexistenz mit den Bahá’í ausgesprochen, die im Iran schwerwiegender Verfolgung ausgesetzt sind.
In Bahrain kommentierte der angesehene Journalist Es’haq Al-Sheikh in der Zeitung Alayamdaraufhin, die Kalligrafie des Ayatollahs führe zu der Einsicht, wonach mutige Taten notwendig seien, um das Prinzip religiöser Koexistenz in der gesamten Region zu fördern.
„Der Aufruf dieses iranischen Geistlichen stellt eine aufrichtige Einladung zu friedlicher und tragfähiger religiöser Koexistenz dar, die fest auf der Toleranz gegenüber allen Religionen gründet“, schrieb Al-Sheikh am 21. April in einem Artikel mit der Überschrift “Den Bahá’í-Glauben bei uns zulassen.“
“Dies ist ein gesegneter Aufruf, der seinen Weg zum Golf, der arabischen Halbinsel und in alle arabischen Länder finden muss, um den Bahá’í ihr Recht zu geben, ihre Religion auszuüben, und um das Konzept der Bürgerrechte in diesen Ländern zu stärken und die Gleichberechtigung aller Religionen und Weltanschauungen in unseren arabischen Gesellschaften zu stärken“, so Al-Sheikh.
Ein Prozess gegenseitigen Entdeckens
Der ehemalige Abgesandte der Arabischen Liga bei den Vereinten Nationen und Herausgeber der Zeitungen Al-Ahram in Kairo und Al-Nahar in Beirut, Clovis Maksoud, sagte in einem Interview:
„Es gibt im Moment bei allen Religionen ohne Frage einen Trend gegen Dogmatismus und Engstirnigkeit“, und fügte hinzu: “Es wächst die Einsicht, dass es zwischen den Religionen mehr Gemeinsamkeiten als Trennendes gibt.“
“Was der Ayatollah getan hat und sein Geschenk an die Bahá’í sind auf subtile Weise Beweise hierfür. Und dies kann nicht nur auf das angewandt werden, was den Bahá’í widerfahren ist, sondern auch was in vielen Situationen zwischen Schiiten und Sunniten und zwischen Christen und Muslimen passiert”, meinte der gebürtige Libanese, der bis 2011 als Professor für Internationale Beziehungen und Direktor des Zentrums für den Globalen Süden an der American University in Washington DC tätig war. Es ist notwendig, über die Idee bloßer Toleranz und sogar Koexistenz hinauszugehen, meinte Maksoud.
„Ich möchte an einem Prozess gegenseitigen Entdeckens teilhaben, um zu sehen, was uns eint und was uns trennt. Ich möchte mich an Vielfalt als Übung sowohl in geistiger Übereinstimmung als auch in der Praxis erfreuen.”
Auch Mahmoud Chreih, ein renommierter Autor und Herausgeber, der an der American University in Beirut lehrt, zeigte sich davon überzeugt, dass die neue Botschaft des Zusammenlebens vom Koran und anderen islamischen Texten unterstützt werde. “Der Koran ist eindeutig – die Verse über Toleranz sind klar, so dass es mit den Schriften des Islam kein Problem gibt”, meint er. „Das Problem ist, wie sie angewandt werden.“ Die Botschaft Ayatollah Tehranis und anderer fänden daher in der ganzen Region zurecht Nachhall, so Chreih.
“Religion sollte nicht dazu benutzt werden, die Menschheit zu unterdrücken”
Im Irak gab einer der bedeutendsten schiitischen Geistlichen, Ayatollah Seyed Hosein Sadr, ein langes Interview, in dem er eine ähnliche Vision religiösen Zusammenlebens und Religionsfreiheit skizzierte.
“Ich glaube nicht an die Dichotomie in Gottes Botschaft genauso wenig wie an die Dichotomie oder den Konflikt zwischen Gott und der Menschheit“, sagte Ayatollah Sadr am 14. Mai in einem Interview, das bei Din Online veröffentlicht wurde.
„Ich glaube, dass solche Annahmen auf ein falsches Verständnis religiöser Fanatiker und Radikaler zurückgehen … Religion sollte nicht dazu benutzt werden, die Menschheit zu unterdrücken oder ihn oder sie zu etwas zu zwingen oder Druck oder Nötigung auszuüben. Religion soll die Menschheit zu einem edleren Leben anleiten, Gefühle der Freude und der glücklichen Fügung durchdringen und dem Leben Sinn und Wert verleihen“, sagte Ayatollah Sadr.
Ayatollah Sadr wurde auch auf seine kürzlich erfolgte Aussagen angesprochen, wonach er Muslime dazu ermahnte, freundschaftliche Beziehungen zu den Bahá’í zu pflegen. „Auch wenn ich mit den Anhängern einer bestimmten Religion nicht unbedingt übereinstimme, heißt das nicht, dass ich ihnen ihr natürliches Recht als Mensch vorenthalten darf“, sagte er.
„Die Religion hat uns geboten, andere und sogar unsere Feinde mit Fairness und Gerechtigkeit zu behandeln. Wie Gott sagte: ‘Die Feindseligkeit eines Volkes soll euch nicht verleiten, anders denn gerecht zu handeln. Seid gerecht, das ist näher der Gottesfurcht!’“
Ahlam Akram, eine bekannte arabische Friedensaktivistin, kommentierte am 24. April in der ersten tagesaktuellen arabischen Online-Zeitung Elaph:
“Überraschenderweise, und vielleicht voller Zuversicht, hat eine Reihe muslimischer Geistlicher ein neues Verständnis der Lehren und Prinzipien des Islam aufgegriffen. Ein Verständnis, das eine positive Haltung einnimmt auf Basis des Geistes der Religion und daran glaubt, dass der heilige Koran die Koexistenz zwischen Religionen nicht nur begünstigt, sondern sogar begrüßt.“
(Fotos/Text: BWNS)